Samstag, 14. Mai 2011

PAPST BENEDIKT: SCHULE DES GEBETS

04.05.2011: von Zenit:

Liebe Brüder und Schwestern,
am heutigen Tag möchte ich mit einer neuen Katechesenreihe beginnen. Nach den Katechesen über die Kirchenväter, die großen mittelalterlichen Theologen und die großen Frauengestalten möchte ich nun ein Thema wählen, das uns allen sehr am Herzen liegt: das Thema des Gebets, oder genauer das Thema des christlichen Gebets; das heißt jenes Gebets, das uns Jesus gelehrt hat und das die Kirche uns weiterhin lehrt. In Jesus wird der Mensch fähig, sich Gott mit jener Innigkeit und Vertrautheit anzunähern, die der Beziehung zwischen Vater und Kind Eigen ist. Gemeinsam mit den ersten Jüngern richten wir uns in demütigem Vertrauen an den Meister und bitten ihn: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11, 1).

In den folgenden Katechesen wollen wir uns der Heiligen Schrift, den großen Traditionen der Kirchenväter, der Meister der Spiritualität und der Liturgie annähern und von ihnen lernen, wie wir unsere Beziehung zu Gott immer mehr vertiefen können, gleich wie in einer „Schule des Gebetes“. Wir wissen wohl, dass das Gebet nicht als etwas Gegebenes gelten kann: Es ist notwendig, beten zu lernen, ja, diese Kunst sozusagen immer wieder neu zu erlernen. Auch diejenigen, die im geistlichen Leben bereits weit fortgeschritten sind, spüren immer wieder den Drang, sich in die Schule Jesu zu begeben, um von ihm zu lernen, wie man authentisch betet. Durch sein Beispiel erhalten wir gleichsam die erste Lehre vom Herrn. Die Evangelien beschreiben uns, dass Jesus in einen ebenso innigen wie beständigen Dialog mit dem Vater sich befand: zwischen jenem, der in die Welt kam, um nicht seinen eigenen, sondern den Willen des Vaters zu tun, und dem Vater, der den Sohn zur Erlösung der Menschheit sandte, besteht eine tiefe Einheit.
Zur Einführung möchte ich in dieser ersten Katechese einige Beispiele des Gebetes vorstellen, welche die alten Kulturen pflegten, um zu zeigen, auf welche Weise man sich immer und überall auf Gott hin ausrichtete.

Beginnen wir zum Beispiel mit dem Alten Ägypten. Hier bittet ein blinder Mann die Gottheit darum, ihm das Augenlicht wiederzugeben, er erwartet etwas allgemein Menschliches und stellt damit das einfache und reine Bittgebet dessen vor, der leidet. Dieser Mensch betet: Mein Herz verlangt danach, dich zu sehen… Du, der du mich die Schatten hast sehen lassen, schaffe Licht für mich. Dass ich dich zu sehen vermag! Wende mir dein doch dein Antlitz zu“ (A. Baruq, F. Daumas, Hymnes et prières de l’Egypte ancienne, Paris 1980.). „Dass ich dich zu sehen vermag“ ‑ hier liegt der Kern des Gebetes!

In den Religionen Mesopotamiens hingegen dominierte das Verständnis für eine archaische und lähmende Art der Schuld, die trotzdem der Hoffnung auf Befreiung und Erlösung durch Gott nicht entbehrte. So betrachtet, wissen wir die Bitte eines Gläubigen aus diesen alten Kulturen zu schätzen, die lautet: „O Gott, der du selbst der größten Sünde gnädig bist, erlöse mich von meiner Sünde… Schaue, Herr auf deinen zerschlagenen Diener, und blase deinen Wind über ihn. Zerreiße meine Kette, befreie mich von den Fesseln“ (M.-J. Seux, Hymnes et prières aux Dieux de Babylone et d’Assyrie, Paris 1976). Das sind Ausdrücke, die zeigen, wie der Mensch in seiner Suche nach Gott bereits, wenn auch noch auf konfuse Weise, einerseits seine Schuld und andererseits die Barmherzigkeit und Güte Gottes vorausahnte.

Im Inneren der heidnischen Religion des antiken Griechenlands spielt sich dann eine bedeutende Entwicklung ab: Die Gebete sind zwar weiterhin Bittgebete um die Gunst des Himmlischen in allen Lebenslagen des täglichen Lebens und um materielle Güter, doch richtet sich der Blick auch Schritt für Schritt auf selbstlose Bitten; sie fordern den gläubigen Menschen dazu auf, seine Beziehung mit Gott zu vertiefen und sich zu bessern. Beispielsweise erzählt der große Philosoph Platon von einem Gebet seines Lehrers Sokrates, der zu Recht als ein Begründer des westlichen Denkens gilt. Do betete Sokrates: „Verleihet mir, schön zu werden im Innern; was ich aber äußerlich habe, dass es dem Inneren befreundet sei! Für reich aber möge ich den Weisen achten. Des Goldes Fülle aber möge mir zuteilwerden in solchem Maße, in dem es ein anderer weder führen noch tragen könnte als der Weise. Für mich ist damit das volle Maß erbeten!“ (Platon, Phaidros, 279c). Er möchte vor allem schön im Innern und weise sein, nicht reich sein und kein Geld haben.
Zu den berühmtesten Meisterwerken der Weltliteratur gehören die griechischen Tragödien, die auch heute, fünfundzwanzig Jahrhunderte später, noch gelesen, bedacht und dargestellt werden. In ihnen sind Gebete zu finden, die den Wunsch des Menschen ausdrücken, Gott zu erkennen und seine Hoheit anzubeten. In einer von ihnen finden wir dies: „Von der Erde erhalten, die überirdisch ihren Sitz hat, bist du, Zeus, so schwer zu verstehen, seien es dein natürliches Recht oder deine sterblichen Gedanken, an dich wende ich mich. Schon weil du auf leisen Wegen die menschlichen Wege leitest, der Gerechtigkeit entsprechend“ (Eurypides, Troja, 884-886). Gott bleibt ein wenig nebulös, aber dennoch erkennt der Mensch diesen unbekannten Gott und bittet ihn, seine Wege auf der Erde zu leiten.

Auch bei den Römern, die jenes große Kaiserreich aufbauten, in dem das Christentum seit seinen Ursprüngen wuchs und sich verbreitete, öffnete sich das Gebet oft, wenngleich auch noch utilitaristisch und grundlegend mit der Schutzbitte um das Leben der Zivilgemeinschaft verbunden, den verehrenden Anrufungen der persönlichen Hingabe, die sich in Lobpreis und Dank verwandelte. So auch bei Apuleius, einem Autor des römischen Afrika aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. In seinen Schriften drückt er die Unzufriedenheit seiner Zeitgenossen in Bezug auf die traditionelle Religion und den Wunsch nach einem authentischeren Gott aus. In seinem Meisterwerk mit dem Titel „Die Metamorphosen“ richtet sich ein Gläubiger mit folgenden Worten an eine Göttin: „Du bist die Heilige, du bist ewiglich die Erlöserin der menschlichen Rasse. Du bist in deiner Großzügigkeit immer die Hilfe der Sterblichen, du gibst den Leidenden deine zärtliche Liebe, als ob du ihre Mutter wärst. Kein Tag, keine Nacht, kein Moment, wie kurz er auch sein mag, vergeht, ohne dass du deine Geschenke machst“ (Apuleius, Metamorphosen, IX, 25).
Gleichzeitig bestätigt Marc Aurel, der sich als Philosoph Gedanken über die menschliche Lebenslage machte, die Notwendigkeit des Gebetes für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen göttlichem und menschlichem Wirken. Er schrieb in seinen Erinnerungen: „Wer hat dir gesagt, dass die Götter uns nicht helfen, auch in Dingen, in denen sie von uns abhängen? Beginnen wir, sie zu bitten, und warten wir ab.“ (Dictionnaire de Spiritualitè, XII/2, col. 2213). Dieser Rat des Philosophenkaisers wurde von zahlreichen Generationen von Menschen vor Christus in die Tat umgesetzt, die so bewiesen, dass das menschliche Leben ohne Gebet seines Sinn-Bezugspunkts beraubt wird. In jedem Gebet drückt sich immer die Wahrheit der menschlichen Geschöpflichkeit aus, die einerseits die Schwäche und das Elend erfährt, darum den Himmel um Hilfe bittet, und auf der anderen Seite mit einer außergewöhnlichen Gnade beschenkt wird, die sie auf den Empfang der göttlichen Offenbarung vorbereitet. So entdeckt sie die Fähigkeit, mit Gott in Verbundenheit einzutreten.

Liebe Freunde, in diesen Beispielen des Gebetes der verschiedenen Epochen und Völker spricht das Wissen um die geschöpfliche Verfasstheit des menschlichen Seins und seine Abhängigkeit von einem anderen zu uns, der über ihr steht und die Quelle alles Guten ist.
Der Mensch betet in allen Zeiten, weil er nicht anders kann, als nach dem Sinn seiner Existenz zu fragen, der ihm dunkel und unheimlich erscheint, wenn er nicht mit dem Geheimnis Gottes und seines Planes für die Welt verbunden wird. Das menschliche Sein ist eine Überkreuzung von Gutem und Bösem, von unverdientem Leid, von Freude und Schönheit, das uns spontan und unvermeidlich dazu drängt, Gott um jenes Licht und innere Kraft zu bitten, die uns im Erdendasein helfen und eine Hoffnung eröffnen kann, die über die Grenzen des Todes hinweg geht.
Die heidnischen Religionen bleiben eine Anrufung der Erde, die eine Antwort des Himmels abwartet. Einer der letzten heidnischen Philosophen, der bereits in der christlichen Ära lebte, Proklus von Konstantinopel, erklärte über dieser Erwartung: „Unerkennbarer, keiner kann dich fassen. Alles, was wir denken, stammt von dir. Unser Leid und unser Wohl kommen von dir, wir sehnen uns nach dir. O Unermesslicher, dessen Anwesenheit unsere Seelen spüren, an dich richten wir unsern Hymnus des Schweigens“ (Hymnen, E. Vogt, Wiesbaden 1957).

In den Beispielen der Gebete der verschiedenen Kulturen, die wir besprochen haben, können wir ein Zeugnis der religiösen Dimension im Wunsch nach Gott erkennen, der in jedes menschliche Herz eingeschrieben ist. Dieser Wunsch erhält seine Vervollkommnung erst im Alten und Neuen Testament. Die Offenbarung reinigt den ursprünglichen Wunsch nach Gott und bringt ihn zur Vollendung, bietet im Gebet die Möglichkeit einer tiefen Beziehung mit dem himmlischen Vater.
Am Beginn dieses Weges in der „Schule des Gebetes“ möchten wir also den Herrn bitten, unseren Verstand und unser Herz zu erleuchten, damit die Beziehung mit ihm im Gebet immer tiefer, liebevoller und beständiger werde. Bitten wir ihn nochmals: „Herr, lehre uns zu beten“.

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