Samstag, 14. Mai 2011

PAPST BENEDIKT: BETEN IST SICH SEHNEN NACH GOTT

11.05.2011; von Zenit:

Liebe Brüder und Schwestern!
Heute möchte ich fortfahren, darüber zu reflektieren, auf welche Weise das Gebet und der Sinn für das Religiöse Teil des Menschen in seiner ganzen Geschichte waren. Wir leben einerseits in einer Zeit, in der die Zeichen des Säkularismus offenkundig sind. Gott scheint entweder aus dem Blickwinkel vieler Menschen verschwunden oder aber zu einer Realität geworden zu sein, der gegenüber man sich gleichgültig verhält. Andererseits sehen wir in der gleichen Zeit viele Anzeichen, die auf das Wiedererwachen eines Sinnes für das Religiöse hindeuten, auf eine Wiederentdeckung der Bedeutung Gottes für das Leben des Menschen, auf ein geistiges Bedürfnis, eine rein horizontale und materialistische Sicht auf das menschliche Leben zu überwinden.
Wenn man die jüngere Geschichte betrachtet, fällt auf, dass die Vorhersage jener falsch war, die in der Zeit der Aufklärung das Verschwinden der Religionen vorhersagten und gleichsam eine absolute Vernunft erhoben, die vom Glauben losgelöst ist, eine Vernunft, welche die Dunkelheit eines religiösen Dogmatismus verdrängte und die „Welt des Heiligen“ auflöste und so dem Menschen seine Freiheit, seine Würde und seine Unabhängigkeit von Gott wiedergegeben habe. Die Erfahrung des letzten Jahrhunderts mit seinen zwei tragischen Weltkriegen hat diesen Fortschritt in eine Krise gestürzt, den die autonome Vernunft des Menschen ohne Gott scheinbar zu garantieren vermochte.

Der Katechismus der katholischen Kirche bestätigt: „Durch die Schöpfung ruft Gott jedes Wesen aus dem Nichts ins Dasein. Selbst nachdem der Mensch durch seine Sünde die Ähnlichkeit mit Gott verloren hat, bleibt er nach dem Bilde seines Schöpfers geschaffen. Er behält das Verlangen nach Gott, der ihn ins Dasein ruft. Alle Religionen zeugen von diesem Suchen, das dem Wesen des Menschen entspricht“ (KKK, 2655). Wir können sagen, wie ich es in der letzten Katechese schon erläuterte, dass es von der fernsten Vergangenheit bis zu unseren Tagen keine Zivilisation gegeben hat, die nicht religiös gewesen wäre.

Der Mensch ist seiner Natur nach religiös, er ist ein "homo religiosus", wie er auch "homo sapiens" und "homo faber" ist: „Der Wunsch nach Gott“, so steht es im Katechismus, „ist im Herzen des Menschen eingeschrieben, weil der Menschen von Gott und für Gott geschaffen wurde“ (Nr. 27). Das Bild des Schöpfers ist in sein Sein eingeprägt, und er spürt das Bedürfnis, ein Licht zu finden, um auf jene Fragen Antwort geben zu können, die den tiefen Sinn der Wirklichkeit betreffen; eine Antwort, die er weder in sich selbst, noch im Fortschritt oder in den empirischen Wissenschaft finden kann. Der "homo religiosus" taucht nicht nur in den antiken Welten auf, er ist in der ganzen Geschichte der Menschheit gegenwärtig. In diesem Zusammenhang hat das reiche Feld der menschlichen Erfahrung verschiedene Arten von Religiosität aufkommen sehen, immer mit dem Versuch, Antwort zu geben auf das Bedürfnis nach Fülle und Glück, auf den Wunsch nach Erlösung und der Suche nach Sinn. Der „digitale“ Mensch sucht ebenso wie der Höhlenmensch in der religiösen Erfahrung nach Wegen, um seine Endlichkeit zu überwinden und sein schwankendes irdisches Abenteuer abzusichern.

Im Übrigen hätte das Leben ohne einen transzendenten Horizont keinen erfüllten Sinn und wir projizierten das Glück, das wir alle anstreben, spontan in die Zukunft, in ein „Morgen“, das sich erst noch erfüllen muss. Das 2. Vatikanische Konzil hebt in der Erklärung „Nostra aetate“ hervor: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von jeher die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? [Wer bin ich?] Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was sind der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ (Nr. 1). Der Mensch weiß, dass er nicht von selbst antworten kann auf sein Grundbedürfnis, verstehen zu wollen. Wenn er sich Illusionen macht und sich damit betrügt, dass er selbständig sei, dann wird er die Erfahrung machen, dass er sich selbst nicht genügen kann. Er hat das Bedürfnis, sich etwas oder jemand anderem zu öffnen, der ihm geben kann, was ihm fehlt; er muss aus sich selbst herausgehen, auf den zu, der ihm in Fülle seinen tiefen Wunsch erfüllen kann.
Der Mensch trägt in sich einen Durst nach Unendlichkeit, eine Erinnerung an die Ewigkeit, eine Suche nach Schönheit, einen Wunsch nach Liebe, ein Bedürfnis nach Licht und Wahrheit, die ihm zum Absoluten drängen. Der Mensch trägt in sich das Verlangen nach Gott. Und der Mensch weiß auf eine Weise, dass er sich Gott zuwenden kann, er weiß, dass er beten kann. Der heilige Thomas von Aquin, einer der größten Theologen der Geschichte, definiert das Gebet als einen „Ausdruck jenes Verlangens, das der Mensch nach Gott hat“.

Diese Anziehungskraft Gottes, die Gott selbst in den Menschen hineingelegt hat, ist die Seele des Gebetes, die sich dann in verschiedene Formen und Weisen einkleidet, je nachdem, wie es Geschichte, Zeit, Moment, Gnade und Sünde eines jeden Beters erheischen. Die Geschichte des Menschen kennt tatsächlich verschiedene Formen des Gebetes, denn sie hat verschiedene Weisen, sich dem Anderen zu öffnen, entwickelt, und zwar so vielfältig, dass wir das Gebet als fundamentale Erfahrung einer jeden Kultur und Religion erkennen können.

Liebe Brüder und Schwestern, wie wir am letzten Mittwoche gesehen haben, ist das Gebet in der Tat nicht an ein bestimmtes Umfeld gebunden, sondern findet sich im Herz einer jeden Person und einer jeden Zivilisation eingeschrieben. Wenn wir vom Gebet als Erfahrung des Menschen als solchem, nämlich als "homo orans" sprechen, ist es natürlich nötig, sich bewusst zu machen, dass es sich zunächst um eine innere Haltung handelt, die vor einer Reihe an Praktiken und Formeln steht; eine Art, vor Gott zu stehen, bevor man den Kult ausübt oder Worte spricht. Das Gebet hat sein Zentrum und senkt seine Wurzeln ein im Innersten der Person, darum ist es nicht leicht zu entschlüsseln und kann auch Missverständnissen und Verfälschungen unterworfen sein. Auch in diesen Sinne können wir den Ausspruch wiederholen: Beten ist schwierig. Das Gebet ist der Ort der Dankbarkeit, der Spannung auf das Unsichtbare zu, das Unfassbare und Unnahbare schlechthin. Darum ist das Gebet eine Herausforderung für alle, eine „Gnade“, die es herabzurufen gilt, ein Geschenk dessen, an den es gerichtet ist.

Im Gebet jeder geschichtlichen Epoche verstand es der Mensch, sich und seine Situation vor Gott und von Gott und auf Gott hin geordnet zu sehen, und er erfuhr sich als Geschöpf, das der Hilfe bedarf, unfähig, sich selber der Erfüllung seiner Existenz anzunehmen und sich selber Hoffnung zu geben. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein erinnert daran, dass „Beten bedeutet zu spüren, dass der Sinn der Welt außerhalb der Welt liegt“. In der Dynamik dieser Beziehung mit demjenigen, der der Existenz Sinn verleiht, mit Gott, hat das Gebet als eine seiner typischen Gesten das Knien. Es ist eine Geste, die in sich eine radikale Ambivalenz trägt: Ich kann dazu gezwungen werden, mich hinzuknien, als ein Zeichen der Unterwürfigkeit und der Sklaverei, aber ich kann mich auch spontan hinknien, um meine Grenze und meine Not nach dem anderen offenzulegen. Ihm zeige ich mich als schwach, bedürftig, als ein „Sünder“. In der Erfahrung des Gebetes erschließt das menschliche Geschöpf das Wissen um sich selbst, als das, was es in seiner Existenz ausmacht, und gleichzeitig richtet es sich auf das Sein aus, vor dem es steht, richtet seine Seele auf jenes Geheimnis, von dem es die Erfüllung seiner Sehnsüchte erhofft und Hilfe für die Überwindung des Elends seines Lebens erwartet.

In diesem Auf-den-anderen-Blicken in diesem sich „Außer-sich-Wenden“ besteht das Wesen des Gebetes, als Erfahrung einer Realität, die das Sinnliche und das Veränderliche erfährt. Letztlich offenbart sich nur in Gott die Antwort auf die Suche des Menschen vollständig. Das Gebet, das das Herz zu Gott erhebt, wird so zu einer persönlichen Beziehung mit ihm. Und auch wenn der Mensch seinen Schöpfer vergisst, bleibt der lebendige und wahre Gott an erster Stelle der geheimnisvollen Begegnung des Gebetes.

Wie es im Katechismus steht: „Beim Beten geht diese Bewegung der Liebe des treuen Gottes zuerst von ihm aus; die Bewegung des Menschen ist immer Antwort. In dem Maß, in dem Gott sich offenbart und den Menschen sich selbst erkennen lässt, erscheint das Gebet als ein gegenseitiger Zuruf, als ein Geschehen des Bundes, das durch Worte und Handlungen das Herz miteinbezieht. Es enthüllt sich im Lauf der ganzen Heilsgeschichte“ (Nr. 2567).

Liebe Brüder und Schwestern, lernen wir, vor Gott stehen zu können, zu Gott hinzugehen, der sich in Jesus Christus offenbart; lernen wir im Schweigen, im Inneren unserer selbst seine Stimme zu hören, die uns ruft und uns in der Tiefe unseres Daseins, an der Quelle des Lebens, am Brunnen des Heils dazu drängt, die Grenzen unseres Lebens zu durchbrechen und uns dem Maß Gottes zu öffnen, in Beziehung mit ihm, der unendlichen Liebe. Danke.

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